Verflixtes Jahr der DFB-Elf

Vom Weltmeister zum Absteiger

Von Stefan Frommann, Julien Wolff
Veröffentlicht am 18.11.2018Lesedauer: 7 Minuten

Die deutsche Nationalelf hat in diesem Jahr eine beispiellose Talfahrt hingelegt. Gibt es ein Zurück? Experten für jeden Mannschaftsteil diskutieren über die Zukunft des Teams. In einem Punkt sind sich alle einig.

Das meistdiskutierte Jahr in der Geschichte der deutschen Nationalmannschaft endet ausgerechnet dort, wo Franz Beckenbauer die Basis für zwei Weltmeister-Titel legte. Sonntagmittag fliegt Joachim Löw mit seinem Team von Leipzig nach Dortmund. Sie lassen sich von dort im Bus ins SportCentrum Kaiserau fahren, die legendäre Sportschule, in der sich Beckenbauer 1974 als Kapitän und 1990 als Trainer auf die Weltturniere vorbereitet hatte.

Beide Male kehrte er als gefeierter Sieger heim. Für Löw geht es in Kaiserau darum, eine Katastrophe zu verarbeiten, wie sie die deutsche Fußball-Geschichte noch nie geschrieben hat: den Abstieg in die europäische Zweitklassigkeit.

Es wird das letzte Spiel eines Jahres, das für so einige Überraschungen und viel Gesprächsstoff sorgte. Montagabend (20.45 Uhr, ARD und im WELT-Liveticker) empfängt Deutschland in der Nations League in Gelsenkirchen die Niederlande. Unabhängig vom Ergebnis weiß Löw bereits, dass sein Team künftig in der B-Liga kickt. Dort, wo in der Nations League überhaupt nicht mehr um einen Titel gespielt werden kann.

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Rückblick, März 2018. In Düsseldorf versammelt Löw erstmals seine Weltmeister und beginnt offiziell das Unternehmen Titelverteidigung. Noch nie hat das eine deutsche Mannschaft geschafft, aber Löw zählt einige Gründe auf, warum er mit diesem erfahrenen Team dazu in der Lage sein wird, und das Jahr beginnt verheißungsvoll.

 

Khedira führt die Elf als Kapitän aufs Feld, ter Stegen steht für den verletzten Neuer im Tor, und Löw beweist gegen Spanien ein feines Händchen mit seinem 4-2-3-1-System. Nach einem abwechslungsreichen Spiel und einem Traumtor von Thomas Müller fügt sich am Ende ein Unentschieden gegen den WM-Mitfavoriten in die großartige Bilanz des Weltranglistenersten.

Löw ist so lange ungeschlagen wie noch nie in seiner Amtszeit, 21 Spiele sind es nun. Selbstbewusstsein weicht ein wenig Selbstherrlichkeit. Nach dem 1:1 lehnt er sich auf dem kurzen Rückflug nach Berlin in einer kleinen Propellermaschine entspannt zurück. Vor dem Einstieg diktiert er den Journalisten noch schnell in die Notizbücher: „Ich bin sehr zufrieden.“

Es ist verdammt viel passiert seit diesem Satz, der die Fußball-Nation lange in Sicherheit wähnte. Vor den letzten 90 Minuten eines turbulenten Jahres sieht Löws Bilanz längst nicht mehr so märchenhaft aus: Zwölf Spiele, vier Siege, zwei Unentschieden, sechs Niederlagen. 12:15 Tore, frisch aufpoliert durch ein 3:0 gegen Russlands zweite Garde. Im Sommer das Vorrunden-Aus bei der WM, in dessen Folge der Absturz auf Weltranglistenplatz 14, jetzt der Abstieg.

 

Löw musste viel Kritik einstecken, von den Fans in Deutschland wurde er emotional abgewählt wie Bundeskanzlerin Merkel. In Leipzig blieben am vergangenen Donnerstag so viele Plätze leer, dass sich die Spieler über das großflächige Türkis der Sitzschalen lustig machten (Kimmich: „Ich habe mich gefühlt wie im Hallenbad“), und Löw musste kleinlaut zugeben: „Man kann nicht erwarten, dass uns die Fans nach diesem Jahr die Bude einrennen.“

Wer sich an die Analyse dieses verkorksten Fußballjahres macht, der muss zwangsläufig im Tor beginnen. Bis kurz vor dem WM-Start glaubte wegen eines Mittelfußbruches kaum jemand an eine Teilnahme von Manuel Neuer. Doch auf den viermaligen Welttorhüter und Kapitän mochte Löw in Russland nicht verzichten. Er nahm ihn mit und setzte ihn auch sofort ein.

Torhüter

Für Uli Stein, in den 80er-Jahren einer der besten Torhüter weltweit, die richtige Entscheidung: „Manuel ist ganz klar Deutschlands Nummer eins – jedenfalls war er das bis zu seiner Verletzung. Durch die lange Pause fehlte ihm natürlich Spielpraxis. Und: Ter Stegen hat in den vergangenen zwei Jahren ganz schön aufgeholt, er spielt in Barcelona hervorragend. Die Lücke zwischen den beiden ist deutlich kleiner geworden. Wenn Neuer aber sagt, dass er fit ist und spielen kann, ist es auch richtig, ihn mit zur WM zu nehmen und dort einzusetzen.“

Eintracht Frankfurt - Hamburger SV
Uli Stein gewann 1983 als Torwart des Hamburger SV den Europapokal der LandesmeisterQuelle: pa/Revierfoto/Re

 

Während des Turniers gab es mannschaftsinterne Diskussionen. Einige Spieler machten sich für ter Stegen stark, doch Löw hielt zu Neuer. Auch nach dem WM-Debakel tut er das. Stein findet: „Löw hätte da die Karten neu mischen können. Ich hätte gesagt: Fünfzig-fünfzig, und wir gucken mal, wie es sich bei euch beiden entwickelt. Manuel ist für mich nämlich noch immer nicht ganz der Alte. An seiner Ausstrahlung und seiner Präsenz fehlen mir noch die letzten 15 Prozent. Ich weiß nicht, ob er die Verletzung noch im Hinterkopf hat, aber er wirkt in seinem Auftritt noch nicht so souverän wie davor. Und er strahlte mal eine enorme Souveränität aus. Die vermisse ich.“

Abwehr

Die Abwehr, mit Mats Hummels und Jérôme Boateng noch vor zwei Jahren ein Prunkstück, wurde während der WM zum Unsicherheitsfaktor. Deutschland blieb in keiner Partie ohne Gegentreffer. Löw hat reagiert: Gegen Russland spielten Süle, Ginter und Rüdiger erstmals seit drei Partien wieder zu null. Kimmich ist ins defensive Mittelfeld gerückt. Thilo Kehrer zeigte zuletzt, dass er eine wichtige Rolle in der Mannschaft der Zukunft spielen kann.

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Jürgen Kohler, DFB-Innenverteidger von 1986 bis 1998, Welt- und Europameister, erklärt: „Die Keimzelle jedes Spiels ist der Zweikampf. Hier hatten wir Defizite.“ Kohler fehlen im deutschen Fußball die Spezialisten: „Wenn ich eine Herz-Operation habe, hole ich auch keinen Orthopäden.“

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WM Weltmeisterschaft World Cup Archiv: 1994 27.06.1994
Gruppenspiel
Deutschland - Südkorea 3:2
Jürgen Kohler wurde 1990 mit der Nationalmannschaft WeltmeisterQuelle: pa/augenklick/firo Sportphoto/Jürgen Fromme

 

Er glaubt: Boateng und Hummels können für die Mannschaft weiterhin sehr wichtig sein. „Ich habe in meiner Karriere auch öfter gehört, ich sei ein Auslaufmodell“, so Kohler. „Nach einigen guten Spielen sah es wieder ganz anders aus.“ Von den jungen Spielern gefällt ihm vor allem Niklas Süle. „Er hat enorme Qualitäten und wird sich festspielen. Auch Antonio Rüdiger entwickelt sich gut. Generell ist Geschwindigkeit für die Spieler im heutigen Fußball enorm wichtig.“ Die würden die Jungen mitbringen.

Mittelfeld

Im Mittelfeld waren Anfang des Jahres Toni Kroos und Sami Khedira die zentralen Spieler. Kroos als Spielgestalter, Khedira als Balleroberer. Davor Mesut Özil als Lenker der Offensive. Doch die drei enttäuschten bei der WM, wenngleich Kroos der Siegtreffer gegen Schweden gelang. Löw sortierte Khedira nach der WM aus, Özil trat nach heftigem Streit mit dem Verband um sein Erdogan-Foto zurück.

Andreas Möller spielte zehn Jahre lang für Deutschland, wurde Welt- und Europameister. Er sagt: „Das sind alles tolle Spieler. Da stimmte bei der WM etwas anderes nicht. Die Galligkeit, die du haben musst, fehlte mir. Zwischen den Mannschaftsteilen waren mir die Abstände zu groß. Es sah aus, als hätte sich diese Mannschaft gar nicht gekannt. Da waren überall Löcher. Dabei war es fast die identische Mannschaft, die vier Jahre zuvor Weltmeister wurde.“ Wie geht das?

Andreas Möller
Andreas Möller: Als Mittelfeldspieler Weltmeister 1990, Europameister 1996Quelle: pa/Uwe Anspach/d

 

Es sei ein Trugschluss gewesen zu glauben, mit der Mannschaft von 2014 noch mal so erfolgreich sein zu können, sagt Möller: „Bis zur WM haben wir das aber alle geglaubt. Ich schließe mich da ein. Niemand hielt die Mannschaft für zu satt, für über den Zenit hinaus. Im Nachhinein ist man natürlich immer schlauer. Da hätte man sich den einen oder anderen aus der Confed-Cup-Truppe im WM-Team gewünscht.“

Wolfgang Overath, Welt- und Europameister von 1972 und 74, warnt vor einem zu schnellen Umbruch: „Junge Spieler müssen sich an jemanden anlehnen können, der Erfahrung hat und sie lenkt. Ich sehe da im Mittelfeld Toni Kroos. Nun hat er selbst gerade Probleme, weil er mit Madrid nur Fünfter ist und zu Hause wie alle anderen bei Real Prügel bekommt. Er hat all diese Probleme im Kopf, wenn er zur Nationalmannschaft kommt und dort auf all die jungen Spieler trifft. Deshalb sage ich: Wenn man jetzt den absoluten Umbruch fordert, halte ich das nicht für einfach. Ein Umbruch muss in einem vernünftigen Zeitrahmen stattfinden.“

Für Möller hat sich das neue Mittelfeld längst formiert. „Mit Kimmich und Kroos gefällt mir die Zentrale sehr gut. Ich würde den jungen Havertz einbauen, er ist ein außergewöhnlich guter Fußballer. Dazu Brandt, Draxler, und dann muss sich diese neue Mannschaft aber auch mal einspielen können“, sagt Möller.

Angriff

Die größte Baustelle ist der Sturm. „Unser Problem“, sagt Europameister Klaus Fischer, „wir haben viele gute Stürmer, aber keinen einzigen echten Mittelstürmer.“ Joachim Löw weiß um diese missliche Situation. „Es wäre wünschenswert, wenn wir diesen Topstürmer hätten, der in der Mitte alles vereint. Cavani, Suarez, Lewandowski…“, sagt Löw auf WELT-AM-SONNTAG-Frage. „Es gibt diese Stürmer, die nicht nur vorn auf die Bälle warten, die sämtliche Qualitäten mitbringen. Diesen Mittelstürmer von Weltklasse-Format haben wir aber gerade nicht. Deshalb müssen wir andere Lösungen finden.“ Löw versucht es mit wechselnden Offensivkräften: Reus, Werner, Sané, Gnabry und Daumendrücken.


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